Die Türkei hat die Tore nach Europa geöffnet. Zehntausende Flüchtlinge strömen deswegen an die griechische Grenze. Das führt zu Konflikten und Rechtsbrüchen – mit fatalen Folgen.
von Cevheri Güven
Als Ayşe Erdoğan im vergangenen Jahr aus der Türkei nach Griechenland floh, wusste sie noch nicht, dass sie postwendend an die Türkei ausgeliefert wird. Doch entgegen den Gesetzen der europäischen Union wurde die junge Mathematiklehrerin durch griechische Behörden am 4. Mai 2019 abgefangen und am nächsten Tag wieder in die Türkei übergeben. Heute sitzt sie zum zweiten Mal im Gefängnis. Dabei saß sie bis zu ihrer Flucht aus der Türkei bereits für 28 Monate im Gefängnis. Doch als sie entlassen wurde, hatte sie nicht mehr ihr altes Leben vorgefunden. Eine neue Zukunft unter dem Schutz von Europa war ihr einziger Wunsch. Dieser Traum wurde ihr auf brutale Weise verwehrt.
Dabei hatte die junge Frau gemeinsam mit zwei weiteren Flüchtlingen ihren Antrag auf Asyl gestellt. Dieser Antrag wurde von den örtlichen Behörden gar nicht registriert. Im Gegenteil. Entgegen den Vereinbarungen internationaler Menschenrechtskonventionen und EU-Recht wurde sie im Rahmen eines sog. Push-Backs, also einer illegalen Abschiebung, inoffiziell an die Türkei ausgeliefert. Dennoch gelang es Ayşe Erdoğan, mittels Bildschirmaufnahmen am Smartphone und Videos sowie Fotos, ihre Flucht über den Grenzfluss Evros zu dokumentieren. Das “Institut Forensic Architecture” an der Universität in London hat diese Dokumente ausgewertet und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Belege von Ayşe Erdoğan sind garantiert authentisch. Gemeinsam mit der griechischen Menschenrechtsorganisation “Human Rights360” hat nun die in der Türkei inhaftierte Ayşe Erdoğan Griechenland verklagt.
Dieser Fall zeigt, dass die europäische Grenze, unter anderem geschützt durch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex, gar nicht so rechtssicher war, wie es eigentlich hätte sein sollen. Dennoch war dies eher ein Einzelfall, wohingegen die aktuellen Entwicklungen am Evros ein ganz anderes Bild zeichnen. Seit der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan Flüchtlingen aus Syrien die Türen geöffnet hat, wollen zehntausende Menschen nach Europa. Doch die griechischen Grenzschützer gehen gegen diese Menschen unter anderem mit Waffengewalt vor. Diejenigen, die es irgendwie auf die andere Seite schaffen, werden konsequent zurückgeführt. Man kann aktuell von einer gängigen Push Back Praxis der Griechen sprechen. Entgegen dem demokratischen Werteverständnis der Europäischen Union, entgegen europäischem Recht.
Dabei entsteht ein ganz anderes Bild der EU, denn die Griechen schicken die Flüchtlinge nicht einfach so zurück. In wenigen Tagen sind Dutzende Fälle von Push Backs dokumentiert, bei denen die Betroffenen geschlagen, ausgezogen und ausgeraubt worden sein sollen. Das sind Aussagen von Betroffenen, denen ihr Geld, Handys und andere wertvolle Gegenstände durch griechische Sicherheitsbehörden entwendet worden sein sollen. Europa gibt an diesen Tagen ein besonders unwürdiges Bild ab. Fotografien von nackten Flüchtlingen, die Feuer machen, um sich zu wärmen, machen diesen Umstand besonders deutlich.
Die Türkei hat 1.000 Polizisten an die Grenze geschickt, damit diese die Push Backs der Griechen verhindern. Denn die Griechen schleppen die Flüchtlinge mit Booten über den Evros zurück. Zwischen den Sicherheitskräften beider Länder kommt es immer häufiger zu Konflikten und Spannungen.
Genau das wollte die Türkei verursachen. Die Türkei will die Flüchtlinge mit aller Macht nach Griechenland schicken. Dies verdeutlichen auch Videoaufzeichnungen aus einem Bus, in dem Flüchtlinge ins Grenzgebiet gebracht wurden. Türkische Polizisten in dem Video fordern die Flüchtlinge auf aus dem Bus zu steigen. Auf die Frage eines Flüchtlings, wie sie denn rüber sollen, antwortet ein Polizist: “Mit Booten. Türkische Soldaten werden euch mit Booten rüberbringen”. Als die Flüchtlinge sich umentscheiden und nicht aussteigen wollten, wurden sie mit geladener Waffe bedroht und drangsaliert. Ein Satz des Polizisten stellt unmissverständlich klar, was die türkische Seite beabsichtigt.
“Von hier gibt es kein zurück mehr! Müssen wir euch versorgen?”
Die Flüchtlinge sind die größten Opfer dieser Krise. Erdoğan will sie nach Europa schicken und Europa will sie nicht aufnehmen. Die internationale Gemeinschaft hat die Bedrohungen Erdoğans satt. Aus diesem Grund wurde erstmals in der Geschichte der Europäischen Union das Recht auf Asyl vorübergehend eingefroren. Griechenland nimmt in dieser Phase keine Asylanträge entgegen. Der türkische Präsident zwingt die EU dazu Rechtsverletzungen durchzuführen. In der Türkei wird darüber gesprochen, dass Erdoğan nicht nur die Demokratie in der Türkei zerbreche, sondern auch einen Beitrag dazu leiste, dass in Europa Rechtspopulisten an Zuwachs gewinnen. Zum ersten Mal werden Flüchtlinge an der Grenze zur EU geschlagen und abgewiesen. Das verursacht große Bedenken in Bezug auf die demokratische Zukunft der EU. Erdoğan, der das Rechtssystem in seinem eigenen Land völlig zerstört hat, führt auch dem Rechtssystem Europas große Schaden zu.